"Das war Zyankali, mein Fräulein", sagte der Mann auf dem Podium des evangelischen Kirchentages 1969 zu der Frau neben sich, bevor er zusammensank und auf dem Weg ins Krankenhaus starb. Zuvor hatte er die 2000 Zuhörer im Saal mit einem Gruß "an meine Kameraden von der SS" in helle Aufregung versetzt, ein Glasfläschchen an seine Lippen gesetzt und mit einem Schluck ausgetrunken. Der Name des Mannes (das heißt: das Pseudonym, das der Augenzeuge Günter Grass ihm für sein … mehr"Tagebuch einer Schnecke" gegeben hat) war "Manfred Augst, Augst wie Angst", schreibt Ute Scheub, "Er war mein Vater". -- Ein fulminanter Abgang aus einem verpfuschten Leben. Und ein fulminanter Auftakt für ein bewegendes und glänzend geschriebenes Buch. 35 Jahre nach dessen öffentlichem Selbstmord, findet die Autorin auf dem Dachboden des elterlichen Hauses einen (weiteren) Abschiedsbrief des verhassten Vaters. "Jetzt könnt Ihr wahrscheinlich im Haus bleiben", steht dort zu lesen, "wenigstens noch länger. Der Bausparvertrag ist gesichert. So kann ich diesen Schritt verantworten. Was ich Euch darüber hinaus hätte sein können, bin ich auch so. Meine Hoffnung ist sogar, auf diese Weise Besinnung zu sein für Euch alle". - Das Rechtfertigungsschreiben bestätigt die Tochter in ihrem längst gefällten Urteil über ihren Vater. "Ein geschwollenes, geschwulstiges Nichts", lautet ihr Fazit. Und an den Toten gewandt fügt Sie hinzu: "Nicht mal einen anständigen Abschiedsbrief hast du hingekriegt". Immerhin: Der Brief in der für den Vater typischen "Kampfschrift, die sich nicht darum kümmerte, ob jemand sie lesen konnte", ist Scheub Anlass genug, sich auf "eine Vatersuche" zu machen, bei der sie nicht nur das subtile Nachwirken der väterlichen Nazi-Verstrickung in ihrem Leben rekapituliert und reflektiert, sondern auch den Umgang der elterlichen wie der eigenen Generation mit der Frage nach der Schuld und danach, was aus all dem zu folgern sei. Und deshalb, wenn sie so etwas doch nur läsen: Eine lohnende Lektüre auch für die Generation der Enkel, die daraus nicht nur etwas über die Zeit ihrer Großeltern, sondern auch über die Generation ihrer Eltern erführen. -- Andreas Vierecke weniger