In den 90er-Jahren wurde die Kulturwissenschaft von vielen als Hoffnungsträgerin gesehen, die den interdisziplinären Forschungsansätzen im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich frischen Schwung verleihen sollte. Andere befürchteten, die neue Disziplin werde in fremden Fächern wildern und einem fröhlichen Wissenschaftsdilettantismus frönen. Die Chancen und Risiken der mittlerweile fest etablierten Fachrichtung lassen sich gut an Christina von Brauns Versuch über … mehrden Schwindel ablesen. Ausgehend vom doppeldeutigen Begriff des Schwindels interpretiert sie die Geschichte des abendländischen Denkens anhand der dort gängigen Schriftbilder, Abbildungen und Einbildungen, die entweder schwindeln oder schwindeln machen -- oder beides zugleich. Den Hintergrund, vor dem die Besonderheiten der griechisch-christlich geprägten Gedankenwelt erst richtig deutlich werden, bildet dabei das Judentum mit seinem strikten Bilderverbot. Von der Gnosis bis hin zu Die Matrix , Big Brother und Cyber-Sex, von der erlösenden Hostie zur Genetik als neuem Heilsversprechen -- Brauns Brückenschläge über Jahrhunderte sind zuweilen von Schwindel erregender Kühnheit, aber nicht immer vermögen sie zu überzeugen. Manchmal verstellen die vielen Parallelen und Zusammenhänge den Blick auf das, was sie eigentlich erhellen sollen. Vieles, zu vieles, wird lediglich angetippt, fast so als sei das Buch eine Einführung in die Kulturwissenschaft, in der sämtliche Interessengebiete des Faches kurz vorgestellt werden müssen. Weniger wäre hier mehr gewesen. Immerhin ergibt sich etwa ab der Hälfte des Werkes aus den Einzelteilen allmählich ein Mosaik. Mich haben einzelne Thesen und Gedankenspiele mehr für sich eingenommen als die unvollständige Synthese. Beispielsweise der Versuch, die Magersucht bei Mädchen und jungen Frauen als kaschierten Protest zu deuten, und zwar nicht gegen eine vermeintlich übermächtige Mutter, sondern dagegen, dass eben diese Mutter durch ihre soziale Rolle ausgezehrt, ja ausgelöscht wird. Brauns nüchterner Tonfall kommt hier besonders gut zum Tragen, hie und da hätte man sich mehr Emphase und weniger rhetorische Fragen gewünscht. Am wirkungsvollsten dürfte dieses Opus magnum in homöopathischen Dosen zu genießen sein. Anlese-Tipps: Die Kapitel "Der ein-gebildete Körper" und "Der Kollektivkörper". --Patrick Fischer weniger