Sr. José, der tragikomische Protagonist im neuen Roman des portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago, ist ein archivierter Archivar. Als Amtsschreiber des Zentralen Personenstandsregisters nämlich muß der "Bewahrer vergangener Zeiten" im einzig erhaltenen, denkmalgeschützten Wohntrakt seiner labyrinthischen Arbeitsstätte hausen. Hier kann er auch nach Dienstschluß seiner Dokumentationswut frönen und Dossiers über nationale Berühmtheiten zusammentragen. Als Sr. … mehrJosé in seiner Sammlung jedoch die Karteikarte einer Unbekannten findet und sich nach der Person hinter den Daten auf die Suche macht, droht sein abstraktes Lebenswerk an der Wirklichkeit zu zerbrechen. Leider hat Saramago seinen teilweise aus dem Fundus der Weltliteratur gezogenen Plot -- neben Kafkas Schloß standen offensichtlich Borges' Bibliothek von Babel und Kis' Enzyklopädie der Toten Pate -- gerade am Anfang mit allerlei blutleerem Geplapper verstauben lassen. So findet sich mancher "hohle Satz, der Eindruck machen will, einer von denen, die tiefgründig scheinen und nichts aussagen. Diesbezüglich hätte der 77jährige Autor gut daran getan, sich an die Weisheiten seiner eigenen Geschichte zu halten. Denn: "Es lohnt nicht, Wörter zu verschwenden". Irgendwann wird die Karteikarte der Unbekannten -- sie hat Selbstmord begangen -- vom Geburts- zum Sterberegister hinübergetragen -- und Saramagos Fabel nimmt doch noch eine literarisch furiose Wende. Bis dahin aber bleibt die Geschichte der Toten vor allem eine tote Geschichte. So wird wohl mancher Alle Namen (eigentlich zu Unrecht) ungelesen in seinem Bücherregal vermodern lassen und lieber zu Saramagos Evangelium nach Jesus Christus oder zur Stadt der Blinden greifen. Dort ist die gleiche Strategie einer philosophischen Parabel schließlich von der ersten bis zur letzten Seite gelungen. --Thomas Köster weniger